Polyproblem – Kauf dich frei

kAUF DICH FrEI der schwere weg zur Plastik-neutralität FAKTEN, STANDPUNKTE, ANALYSEN

(K)eine Frage des Gewissens 3 Ausgleich braucht Gerechtigkeit von Prof. Muhammad Yunus 4 Verantwortung sucht Währung | Ein Markt entsteht 6 Risiken und Nebenwirkungen 10 ZWISCHEN GELD UND GEWISSEN 12 Wie das Geschäft mit dem Plastik-Fußabdruck funktioniert Die Standardisierer | Kein Spiel ohne Regeln 13 Warum es ohne Mindestanforderungen nicht geht | Vincent Decap, Zero Plastic Oceans 16 Leitfaden für eine neue Zusammenarbeit | Das Projekt ValuCred und sein Standard-Prozess-Modell 18 Die Projektanbieter | Auf dem Weg zum Dualen System des Südens 20 Mehr Planungssicherheit durch Plastic Credits | Sahithi Snigdha Bhupathiraju, Waste Ventures India 22 Die Makler | Boutiquen für den Plastik-Ablass 24 Raum für Spezialisten | Zwei Fallbeispiele 27 Die Unternehmen | Kein Freibrief für ein „Weiter so!“ 28 Warum Kontrolle gut, Vertrauen aber wichtiger ist | Stuart Lendrum, Iceland Foods 30 Zwischen Anspruch und Wirklichkeit 32 Eine Schlussfolgerung und kurze Gebrauchsanleitung POLYPROBLEM: Wissen. Transparenz. Kooperation 36 Die Initiatoren im Portrait 37 Quellenverzeichnis 38 Links zu genannten Organisationen 38 Inhalt Herausgeber Röchling Stiftung GmbH Richard-Wagner-Straße 9 68165 Mannheim +49 621 4402 232 info@roechling-stiftung.de www.roechling-stiftung.de Wider Sense GmbH Rungestraße 17 10179 Berlin +49 30 24088 240 info@widersense.org www.widersense.org www.polyproblem.org Redaktion Anne Marie Jacob (Wider Sense) Uwe Amrhein (Röchling Stiftung) Text Anne Marie Jacob, Marius Ehrlinspiel, Uwe Amrhein, Laurin Gronbach Prof. Muhammad Yunus Christina Jäger, Konstantin Münchau, Ina Ballik (Yunus Environment Hub) Gestaltung ds.DTP – Detlef Scholz Fotos Adobe Stock, Detlef Scholz, Silv Malkmus, Stefan Krutsch, Fotostudio Neukölln, Leon Fülber (NIDISI), Tam Phan, Iyyappan Janakiraman (Yunus Environment Hub), CleanHub, The No-Trash Triangle Initiative, ValuCred 1. Auflage, Dezember 2022

(K)eine Frage des Gewissens Können wir plastikfrei leben? Wohl kaum. Kunststoff ist allgegenwärtig und nicht vollständig zu ersetzen. Das gilt gleichermaßen für Konsumenten wie für die Wirtschaft. Können wir plastikneutral leben? Lässt sich unser Anteil an der Produktion von Kunststoffabfall kompensieren, indem wir Ausgleichsmaßnahmen finanzieren? Immer mehr NGOs und Sozialunternehmen, die Plastikmüll aus der Umwelt entfernen, bieten sogenannte Plastic Credits an. Sie lassen sich von Einzelpersonen und Unternehmen dafür bezahlen, in bestimmten Regionen eine bestimmte Menge Kunststoffabfall zu bergen und einer Verwertung zuzuführen. Der Gedanke dahinter klingt verlockend und ist bekannt aus dem Kampf gegen die Erderwärmung: Als klimaneutral gilt ein Land oder ein Unternehmen nicht erst, wenn es keine Treibhausgase mehr ausstößt (was ohnehin unmöglich ist), sondern wenn es nicht mehr CO₂ ausstößt, als es kompensieren kann. Deshalb lassen wir Bäume pflanzen, wenn wir einen Flug buchen. Lässt sich dieses Konzept auf den Kampf gegen den Plastikmüll übertragen? Was genau ist unter Plastikneutralität zu verstehen? Wie lässt sie sich messen? Und lässt sie sich so einfach erkaufen? Sollte der erste Schritt nicht sein, weniger neues Plastik einzusetzen, bevor Unternehmen und Personen dafür zahlen, den eigenen Fußabdruck auszugleichen? Neben diesen Grundsatzfragen stellt sich für den sich gerade entwickelnden Kompensationsmarkt beim Kunststoff noch ein weiteres Problem: die Abwesenheit von einheitlichen Standards. Es herrschen vollkommen unterschiedliche Bedingungen für die Vergabe von Plastic Credits, die von der einfachen Plastikmüllsammlung über die Müllsortierung bis hin zum Recycling oder der Weiterverarbeitung des Abfalls reichen. Damit eng verbunden ist die enorm große preisliche Spannbreite je Credit pro Tonne. Daran angeschlossen tauchen wiederum viele soziale Fragen auf: Wie können mit der Sammlung von Abfall beschäftigte Menschen im Globalen Süden vom „Plastik-Ablasshandel“ profitieren? Wie kann garantiert werden, dass eine solche Müllsammlung sozialen, ethischen und ökologischen Anforderungen genügt? Dieser POLYPROBLEM-Report geht der grundsätzlichen Frage auf den Grund, ob alternative Finanzierungsmechanismen ein wirksamer Beitrag zur Lösung der Plastikmüllkrise sind. Vorweg: Wenn es so kommen soll, ist noch viel Entwicklungsarbeit zu leisten. 3 Diese Ausgabe des POLYPROBLEM-Reports entstand in Zusammenarbeit mit Yunus Environment Hub. Yunus Environment Hub (YEH) entwickelt und fördert Social-Business-Unternehmen, um eine sozial-ökologische Transformation der Wirtschaft voranzutreiben und arbeitet zudem als Berater mit einer Vielzahl an Akteuren zur Stärkung von Nachhaltigkeit. Hierzu zählen sowohl Regierungsinstitutionen, öffentliche Einrichtungen und Kommunen als auch Stiftungen und Großkonzerne, die YEH bei der Umsetzung von sozial gerechten Nachhaltigkeitsstrategien unterstützt. Schwerpunktmäßig beschäftigt sich YEH mit den Themen Circular Economy, Abfallmanagement und Plastikrecycling, CO₂-Neutralität, Biodiversität und Aufforstung. www.yunusenvironmenthub.com info@yunuseh.com

Ausgleich braucht Gerechtigkeit von Prof. Muhammad Yunus Die Argumente für die Kohlenstoff-Neutralität sind belegt. Es gibt Debatten über die Strategie, das Tempo und die Zuweisung des relativen Gewichts der Verantwortung, aber nicht über die absolute Notwendigkeit dafür. Der Kerngedanke dieses Konzepts besteht darin, dass Unternehmen, Staaten und Individuen ihren in der Produktion und Anwendung entstehenden Kohlenstoff-Fußabdruck durch CO₂-mindernde Maßnahmen an anderer Stelle ausgleichen müssen. Da stellt sich unweigerlich die Frage, wie es mit der Kunststoff-Neutralität aussieht. Sollten Unternehmen ihren Plastik-Fußabdruck nicht genauso ausgleichen wie ihren Kohlenstoff-Fußabdruck? Das müssen sie, denn Plastikabfall ist nach wie vor eine der größten ungelösten existenziellen Bedrohungen für unseren Planeten. Kunststoff ist zu einem unverzichtbaren Bestandteil unseres Lebens geworden, sei es in Form von Produkten oder deren Verpackung. Die Bedrohung geht von seiner unzureichenden Entsorgung aus. Die Abfälle breiten sich schnell aus und erobern den gesamten Planeten, einschließlich des tiefen Grundes unserer Ozeane. Die Weltgemeinschaft schenkte diesem Problem über Jahrzehnte nicht genügend Aufmerksamkeit. Mit der Verabschiedung der UNEA-Resolution im März 2022 hat die internationale Staatengemeinschaft nun endlich den Grundstein für ein weltweites Abkommen gelegt, das die Vermeidung und verantwortungsvolle Verwertung von Plastikmüll auf der ganzen Welt sicherstellen soll. Die gemeinsame Verantwortung wird erstmals formal anerkannt. Was angesichts der verheerenden ökologischen Folgen unseres Konsums jedoch oft übersehen wird: Das Plastikproblem ist auch ein Gerechtigkeitsproblem. Während der Globale Norden mit seinen weltweit agierenden Unternehmen den größten Teil der Wertschöpfung beansprucht, häufen die Länder des Globalen Südens Berge von Plastikmüll an. Die meisten dieser Länder haben keine flächendeckenden Abfallwirtschaftssysteme. Die Armen dort werden in eine neue Rolle als Sammler von Plastikabfällen gedrängt. In Ländern wie Kenia, Indien oder Brasilien arbeiten informelle Müllsammler an vorderster Front, um Plastikflaschen und anderen Plastikmüll zu sammeln, und riskieren dabei ihre Gesundheit und sogar ihr Leben. In jüngster Zeit entstanden vereinzelte Initiativen mit dem Ziel, die Bedingungen der Plastikmüllsammler durch Kompensations- und Ausgleichsregelungen zu verbessern. So haben einige Unternehmen ihre Version der Plastikneutralität durch den Kauf von Plastikgutschriften, sogenannten Plastic Credits, eingeführt. Die Realität der globalen Plastikmüllkrise ist jedoch viel überwältigender, komplexer und geht weit über das hinaus, was diese noch schwachen Kompensationsbemühungen leisten können. Diese implizieren, dass Umweltschäden, die durch Kunststoffabfälle in einer Region verursacht werden, durch das Sammeln von Kunststoffabfällen in einer anderen Region ausgeglichen werden können. Das ist eine unrealistische Annahme. Aus ökologischer Sicht sind die derzeitigen Ausgleichsangebote nur oberflächliche Lösungen. Sie gehen nicht an die eigentliche Ursache der Krise heran: die noch immer zu sorglose Verwendung von Plastik selbst. Neben dem Umweltaspekt, der weithin sichtbar ist, hat die Plastikmüllkrise auch eine soziale Dimension. Leider wird diese Dimension bei den Ideen und Projekten zur Kompensation meist vernachlässigt. So profitieren bei4

spielsweise informelle Müllsammler, die den größten Teil der Sammelarbeit am unteren Ende der Abfallwertschöpfungskette leisten, kaum von den heute bekannten Ausgleichsmaßnahmen. Denn: Sie werden für die gesammelten Abfallmengen bezahlt, aber niemals unter Berücksichtigung der dafür aufgewendeten Arbeitszeit und der Arbeitsbedingungen. Kompensationsprogramme für Kunststoffabfälle und alle daran beteiligten Parteien müssen diese soziale Dimension der Kunststoffabfallkrise und den Aspekt der Menschenwürde angemessener berücksichtigen. Um alle betroffenen Interessengruppen vollständig in Kompensations- oder Ausgleichsregelungen einzubeziehen, sollten Menschenrechtler in deren Gestaltung einbezogen werden. Wir müssen uns von der derzeitigen, mengenbezogenen Kompensationslogik lösen und unsere Neigung überwinden, schnelle und einfache Lösungen für komplexe globale Probleme zu suchen. Das Prinzip „eine Tonne rein – eine Tonne raus“ funktioniert nicht, weil das Plastikproblem eben nicht nur ein ökologisches und ökonomisches, sondern auch ein soziales Problem ist. Jeder Weg zur Kunststoffneutralität, der seinen Erfolg in Gewichtstonnen misst, ignoriert wichtige Aspekte der Menschenrechte und der Menschenwürde. Wir müssen uns auf eine verstärkte internationale Zusammenarbeit konzentrieren, um den Zugang zu Technologien, den Aufbau von Kapazitäten und die wissenschaftliche und technische Zusammenarbeit zu erleichtern. In der Zwischenzeit bemühen wir uns nach Kräften, den Schaden von Plastikmüll einzudämmen, indem wir die Menschen auf seine Schädlichkeit aufmerksam machen, eine angemessene Politik betreiben, sowohl die Hersteller als auch die Anwender und Nutzer stärker in die Verantwortung nehmen und massive Maßnahmen zum Recycling ergreifen. Professor Muhammad Yunus hat sein Leben dem Kampf gegen soziale und ökologische Ungerechtigkeit gewidmet. Er gründete 1983 in Bangladesch die Grameen Bank, die seither Millionen von Menschen geholfen hat, existenzielle Armut zu überwinden. Professor Yunus gilt als Verfechter der Ziele für nachhaltige Entwicklung und ist international anerkannt für sein Engagement für Menschenrechte und wirtschaftliche Integration. Er wurde 2006 mit dem Friedensnobelpreis, 2009 mit der Freiheitsmedaille des Präsidenten der Vereinigten Staaten und 2010 mit der Goldmedaille des Kongresses der Vereinigten Staaten ausgezeichnet und ist damit eine von nur sieben Personen in der Geschichte, die diese drei Auszeichnungen erhalten haben. Yunus Environment Hub ist das globale Netzwerk für soziale Unternehmen, das Lösungen für die Umweltkrise von heute entwickelt. 5

Verantwortung sucht Währung Der Aufbau von tragfähigen Systemen der Erweiterten Produzentenverantwortung (EPR)1 steckt in den meisten Ländern des Globalen Südens noch in den Kinderschuhen. Gleichzeitig stellt der weltweit rapide steigende Verbrauch von Kunststoffverpackungen und die anhaltenden, teilweise illegalen Exporte von Kunststoffabfällen aus dem Globalen Norden viele Länder des Globalen Südens vor immer größere Herausforderungen.2 Trotz des globalen Charakters der Plastikmüllkrise mangelt es an nachhaltigen Finanzierungsmodellen für den Aufbau von ganzheitlichen Abfallverwertungsinfrastrukturen vor Ort. Als Antwort auf genau diese Finanzierungslücke finden sogenannte Plastic Credits immer häufiger Erwähnung. Der lange Weg zur Kreislaufwirtschaft Bei der fünften Umweltversammlung der Vereinten Nationen im März 2022 in Nairobi haben 175 Staaten mit einer gemeinsamen Resolution einen historischen Meilenstein im globalen Kampf gegen die Plastikkrise auf den Weg gebracht. Unter Einbeziehung verschiedener Stakeholdergruppen wollen sie bis 2024 ein rechtlich bindendes Abkommen verhandeln und ausarbeiten, um sich somit dem Ziel einer erfolgreichen Kunststoff-Kreislaufwirtschaft zu nähern – vom Produktdesign bis zur abschließenden Materialverwertung.3 Die Resolution gilt als die erste ihrer Art, welche die Relevanz der Sammel- und Recyclingaktivitäten sogenannter Waste Picker und anderer Akteure aus dem informellen Sektor in Ländern des Globalen Südens ausdrücklich anerkennt.4 Es wird erwartet, dass das zukünftige Abkommen wichtige Grundlagen für die Förderung und Umsetzung von Kreislaufwirtschaftssystemen legen, Optionen zur Plastikreduktion präsentieren sowie den Bedarf für internationale Zusammenarbeit unterstreichen wird.5 Laut Inger Andersen, Direktorin des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP), wäre ein solches Umweltabkommen zu Plastik und Plastikabfall das wichtigste seit dem Klimaschutzabkommen von Paris.6 Doch bis dahin bleibt der nachhaltige und sozialverträgliche Umgang mit Plastikabfällen zunächst weiter in der alleinigen Verantwortung nationaler Regierungen. In Deutschland und seinen europäischen Nachbarstaaten bilden entsprechende Systeme der erweiterten Produzentenverantwortung die Grundlage nationaler Entsorgungs- und Recyclingkreisläufe. Durch eine ganzheitliche Umsetzung des Verursacherprinzips bilden EPR-Systeme einen Anreiz zur Vermeidung von Verpackungsabfällen und für ein effizienteres Produktdesign auf Herstellerseite und gewährleisten die finanzielle Tragfähigkeit kommunaler Abfallwirtschaftssysteme.7 In Ländern des Globalen Südens können EPR-Systeme darüber hinaus zum Aufbau der notwendigen Entsorgungsinfrastruktur beitragen sowie zu höheren Sammel- und Recyclingraten. Doch die effektive Etablierung solcher Systeme erstreckt sich über einen langen Zeitraum und setzt den notwendigen politischen Willen voraus. Angesichts des allgegenwärtigen Handlungsdrucks braucht es aber schnelle Lösungen. Vor allem in den Regionen, wo EPR-Systeme noch ganz am Anfang stehen, wird händeringend nach alternativen Finanzierungsmöglichkeiten für den Aufbau von Abfallsammlungs- und Recyclinginfrastrukturen gesucht. Hier kommen immer häufiger Plastic Credits ins Spiel. Wer diese neuartige Währung erzeugt und verkauft, Ein Markt entsteht 1 Kurzform der englischen Version von Extended Producer Responsibility (EPR), zu Deutsch: Systeme der erweiterten Herstellerverantwortung 2 Heinrich-Böll-Stiftung (2019); The Guardian (2021) 3 UNEP (2022) (2) 4 UNEP (2022) (2) 5 UNEP (2022) (1) 6 Inger Andersen via Twitter am 02. März 2022 7 PREVENT Waste Alliance (2020) 6

welche Kompensationsleistung dafür erbracht wird – dafür existiert keine übergreifende Definition.8,9 Ausdruck hierfür sind unübersichtliche Marktdynamiken und eine fragmentierte Akteurslandschaft, die im klaren Kontrast zum streng regulierten Markt für den CO₂- Zertifikatehandel steht, der im aktuellen Diskurs vielfach als Referenz für den Handel mit Plastic Credits angeführt wird.10 Plastic Credits – der Grundgedanke Plastic Credits werden entweder direkt von Initiativen oder über zwischengeschaltete Plattformen (Makler) an die Verursacher von Plastikabfällen, in der Regel große Konzerne, Hersteller oder Marken aus dem Konsumgüterbereich, verkauft. Aber auch Unternehmen, die selbst keinen Kunststoff in Verkehr bringen, und Privatpersonen wollen mit dem Kauf von Plastic Credits einen Beitrag leisten. Die Summe, die die Käufer für Plastic Credits bezahlen, fließt als Rückfinanzierung in Organisationen, die davon lokale Sammlungen und die Verwertung von Plastikabfällen organisieren, in der Regel in Regionen des Globalen Südens. Die Vermittlung von Plastic Credits zwischen den lokalen Sammelorganisationen als Hersteller beziehungsweise Verkäufer von Plastic Credits auf der einen Seite und Käufern auf der anderen Seite basiert dabei idealerweise auf unabhängigen Standards oder Richtlinien. Es haben sich verschiedene Organisationen etabliert, die solche Qualitätsvorgaben erarbeitet haben. Nennen wir diese Akteure „Standardisierer“. Mit ihren Kriterien legen sie fest, was ein lokales Sammel- oder Verwertungsprojekt erfüllen muss, um Credits als Kompensationswährung an Unternehmen oder Privatleute zum Verkauf anbieten zu können. Externe Kontrollstellen, sogenannte Zertifizierer, überprüfen und zertifizieren die Einhaltung der Standard-Vorgaben vor Ort. So weit der Grundgedanke. Gegenwärtig verlaufen die Rollen, Verantwortlichkeiten und Geschäftsaktivitäten der unterschiedlichen Akteure im globalen Plastic-­ Credit-Markt jedoch selten so trennscharf. 8 Phipps (2021) 9 The Circulate Initiative (2021) 10 Ebd. Die deutsche Organisation NIDISI baut in Nepal zusammen mit lokalen Partnern Recyclingzentren auf und möchte deren Betrieb dauerhaft mit Plastic Credits finanzieren. 7

Viel Potenzial, wenig Verbindlichkeit Von international verbindlichen Richtlinien zum Handel mit Plastic Credits wie bei den häufig zum Vergleich herangezogenen CO₂-Kompensationsmodellen ist die Entwicklung noch weit entfernt. Begründet liegt dieser Umstand auch darin, dass es sich bei Kunststoffen um wesentlich komplexere und vielfältigere Materialien handelt als bei Treibhausgasen. Umso weniger überraschend ist es deshalb, dass die sieben wichtigsten definierten Standards alle freiwilliger Natur sind.11 Zusätzlich fehlt es dem globalen Plastic-Credit-Markt bisher oftmals noch an akkreditierten Zertifizierungsprogrammen. Den Zertifizierern mangelt es wiederum an global einheitlichen Richtlinien. Das hieraus hervorgehende Multiversum an Zertifizierungen, Kriterien und zertifizierten Plastic-Credit-Projekten vermag entsprechend wenig für Durchblick zu sorgen. Zudem herrscht nicht nur Unklarheit darüber, in welcher Beziehung die Vielzahl an Maklern als Verkäufer zu den lokalen Sammelorganisationen stehen, sondern auch um wen es sich konkret bei den Plastic-Credit- Käufern handelt. Obwohl Plastic Credits im Nachhaltigkeitsdiskurs eine zunehmend wichtige Rolle spielen und sich eine Vielzahl an Unternehmen und Marken aus der Konsumgüterindustrie mit dem Konzept beschäftigen, hüllen sich viele von ihnen weiterhin in Schweigen, was konkrete Aktivitäten angeht. Für Außenstehende, und somit für Kunden und Verbraucher, ist selten ersichtlich, welche Unternehmen bisher in welchem Umfang Plastic Credits gekauft haben und unter Berücksichtigung welcher Kriterien dies geschehen ist. Ausgleichsmaßnahmen für Kunststoffe sind noch nicht Teil der Nachhaltigkeitsberichterstattung. 11 Die vier Akteure hinter diesen sieben Standards sind: Verra, Circular Action Hub und Plastic Exchange mit jeweils einem freiwilligen Standard sowie Zero Plastic Oceans mit vier separaten freiwilligen Standards. (Stand Juni 2022) Standardisierer rahmenbedingungen und Kriterien zur Umsetzung von Plastic-Credit-Projekten Zertifizierer Unabhängige Überprüfung der einhaltung von standard-Vorgaben Projektanbieter Lokale sammel- & recyclingorganisationen, die aktivitäten durch Verkauf von Plastic Credits refinanzieren wollen Makler Plattformen, Marktplätze, Organisationen, die Plastic Credits zum Kauf anbieten – entweder aus eigenen oder externen Projekten Käufer Konzerne, Hersteller oder Marken, die durch den Kauf von Plastic Credits ihren Fuß- abdruck kompensieren wollen Das Projekt wird auf die Erfüllung von StandardVorgaben hin überprüft und zertifiziert Sammlung und Verwertung von Plastik beginnt, und Plastic Credits werden generiert Projektanbieter entscheidet sich freiwillig für Standard-Anbieter und füllt Dokumente zur Registrierung aus Plastikmüll Käufer erhält Offsetting-Label Quelle: Polyproblem Idealbild der Funktionsweise des Plastic-Credit-Marktes 8

Abtransport von gesammeltem Plastikmüll in Kerala/Indien. Das Projekt Green Worms wird mit Plastic Credits von Cleanhub ermöglicht. 9

Risiken und Nebenwirkungen Kompensationszahlungen für Plastikabfall sind umstritten. Der Vorwurf des Greenwashing schwingt immer mit, wenn über Plastic Credits diskutiert wird. Das liegt auch an problematischen Begriffen wie dem der „Plastikneutralität“. Er suggeriert, dass Unternehmen durch kurzfristige Zahlungen ihren historischen Fußabdruck ausgleichen können. Das ist nicht möglich. Bereits eingetretene Umweltschäden durch Kunststoffabfälle sind größtenteils irreversibel. Außerdem entsteht hierbei schnell der falsche Eindruck, dass die lokalen Umweltschäden, die durch Plastikmüll in einer bestimmten Region verursacht werden, durch die Sammlung in einer anderen Region ausgeglichen beziehungsweise „neutralisiert“ werden könnten. Im Gegensatz zum Kompensationsmarkt für CO₂- Emissionen kann die Plastikmüllverschmutzung in einem Land aber nicht durch Sammel- und Recyclingaktivitäten in einem anderen kompensiert werden. Zudem steht die Plastik-Kompensation vor dem Dilemma, dass sie die Verschmutzung der Umwelt durch Plastikabfälle reduzieren möchte, jedoch zugleich keine Anreize setzt, Plastikabfall am Anfang der Wertschöpfungskette zu vermeiden. Kritisch zu bewerten ist auch, dass sich manche Plastic- Credit-Systeme ausschließlich auf die Sammlung und Entsorgung von leicht recycelbaren und somit gut verkäuflichen Kunststoffabfällen konzentrieren, wie beispielsweise PET-Flaschen. Diese werden jedoch meist ohnehin durch Abfallsammler eingesammelt. In solchen Fällen fehlt nicht selten die wichtige Komponente der Zusätzlichkeit der Maßnahmen. Kompensationszahlungen bergen zudem das Risiko, dass die daran beteiligten Unternehmen sich nur kurzfristig engagieren und eine langfristige, nachhaltige Verpflichtung ausbleibt. Weiterhin könnten Unternehmen durch den Kauf von Plastic Credits einem verpflichtenden System der erweiterten Produzentenverantwortung (EPR) aus dem Weg gehen oder sich – mit Verweis auf ihre Kompensationszahlungen – sogar dagegen aussprechen. Plastik-Kompensation birgt somit die Gefahr, lineare und nicht nachhaltige Produktions- und Konsummuster zu normalisieren. Trotz dieser Risiken bietet die Plastik-Kompensation große Chancen in jenen Teilen der Welt, in denen es keine funktionierende Abfall-Infrastruktur gibt. Sie trägt beispielsweise dazu bei, dass Plastikabfälle, die nicht recycelt und verwertet werden können, aus der Umwelt entfernt werden. Ein weiterer Vorteil von Plastic-Credit-Systemen ist, dass sie kurzfristig etabliert werden können, während der Aufbau von EPR-Systemen komplex und langwierig ist. Kompensationsmechanismen haben somit das Potenzial, als Übergangsfinanzierung für den Aufbau von EPR-Systemen zu dienen. Zu den Chancen der Plastik-Kompensation gehört auch ihr sozioökonomischer Zusatznutzen: Plastic-CreditSysteme können über faire Löhne und neue Arbeitsplätze die lokale Wirtschaft fördern. Sie bieten eine Einkommensquelle für lokale Abfallsammler, die oftmals unter prekären und unsicheren Bedingungen arbeiten. Wie müssen Kompensationsmechanismen gestaltet sein, damit sie die genannten positiven Wirkungen entfalten und Greenwashing verhindern? Die PREVENT Waste Alliance hat diese Diskussion mit ihren Mitgliedern aufgegriffen, zu denen sowohl Anbieter von Plastic Credits als auch potenzielle Kunden gehören. In der PREVENT-Arbeitsgruppe zu Plastic Credits war man sich schnell einig: Um Greenwashing zu verhindern, muss ein internationaler Rahmen für Plastic-CreditSysteme geschaffen werden, welcher folgende Punkte sicherstellt: Gastkommentar 10

─ ─ Transparente Qualitätsstandards Plastic Credits ist bislang kein geschützter Begriff. Im ersten Schritt müssen daher eine einheitliche Definition und transparente Qualitätsstandards geschaffen werden. Plastic-Credit-Anbieter sollten beispielsweise dokumentieren können, dass gesammelte Plastikabfälle ordnungsgemäß recycelt beziehungsweise entsorgt werden. Zudem sollten auch Arbeitsstandards für Abfallsammler (hinsichtlich Bezahlung, Sicherheit und Gesundheit) berücksichtigt werden. Im Sinne der Transparenz sollte die Vergabe von Plastic Credits und die Einhaltung von Standards durch externe Auditoren geprüft werden. ─ ─ Kompensation als zusätzliche Maßnahme Um Anreize für nachhaltige Produktionsmuster zu setzen und Greenwashing zu verhindern, sollten Plastic Credits nur an diejenigen Unternehmen verkauft werden, die nachweisen können, dass sie bereits andere substanzielle Maßnahmen zur Vermeidung von Plastikmüll ergriffen haben. Plastic Credits sind somit als ein zusätzliches Instrument zu sehen. Sie dürfen von Unternehmen nicht als Alibi genutzt werden, um Investitionen in die Kreislauffähigkeit ihrer Produkte zu umgehen oder hinauszuzögern. ─ ─ Synergien zu EPR-Ansätzen schaffen Kompensationsmechanismen müssen so gestaltet werden, dass sie nicht im Konflikt mit EPR-Systemen stehen, sondern Synergien schaffen und langfristig in EPR-Systeme integriert werden können. So sollte ein transparenter Anteil der Umsätze aus der PlastikKompensation in den Aufbau langfristiger Infrastrukturen fließen, zum Beispiel in Mehrwegsysteme. Mögliche Synergien bestehen auch im Bereich Daten und Monitoring: Über Plastic-Credit-Systeme können Daten zu Abfallmengen und zur Rückverfolgbarkeit von Abfall gesammelt werden, die auch für EPR-Systeme relevant sind. Um den internationalen Austausch zur Harmonisierung von Plastic-Credit-Standards und zur Anschlussfähigkeit von Kompensationsmechanismen an EPR-Systeme zu fördern, bringt die PREVENT Waste Alliance verschiedene Standardsetzer zusammen. Erfahrungen aus Pilotprojekten und kritische Reflexionen der Plastic-CreditArbeitsgruppe sollendazubeitragen, dass Plastic-Credits in der internationalen Debatte aufgegriffen werden und eine geeignete Governance-Struktur etabliert wird. Im nächsten Schritt will die Plastic-Credit-Arbeitsgruppe spezifische Fallstudien erstellen: zur Koexistenz von Plastic Credits und EPR in verschiedenen Ländern und zu finanziellen Anreizstrukturen in Unternehmen, die sich an Plastic-Credit-Systemen beteiligen. Die PREVENT Waste Alliance ist eine internationale Multistakeholder-­ Initiative, die sich für den Aufbau einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft engagiert. Rund 300 PREVENT-Mitglieder aus Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft setzen sich gemeinsam dafür ein, dass Abfälle minimiert, Schadstoffe eliminiert und Ressourcen im Kreislauf geführt werden. Die Allianz wurde 2019 durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) lanciert. Unsere Autorinnen Nicole Bendsen und Dr. Silke Megelski arbeiten als Expertinnen für Kreislaufwirtschaft bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und koordinieren die Arbeit der PREVENT Waste Alliance. Nicole Bendsen (oben) und Dr. Silke Megelski koordinieren als Expertinnen der GIZ die Arbeit der PREVENT Waste Alliance. Zum Weiterlesen: Diskussionspapier der PREVENT-Arbeitsgruppe zu Plastic Credits: Plastic credit schemes and EPR – risks and opportunities Positionspapier des PREVENT-Mitglieds WWF, das die Hauptrisiken von Plastic-Credits-Systemen adressiert: WWF Position: Plastic Crediting and Plastic Neutrality 11

Wer seinen Plastik-Fußabdruck durch einen finanziellen Beitrag zu Umweltschutzprojekten oder Abfallsammlungen ausgleichen möchte, braucht erst einmal Geduld und Forschergeist. Eine unübersichtliche Schar zivilgesellschaftlicher Organisationen und Sozialunternehmen versucht ihre Aktivitäten im Kampf gegen den Kunststoffmüll über den Verkauf von Plastic Credits zu finanzieren. In bester Absicht ist ein ungeordneter Markt entstanden. Schauen wir uns die Akteure im Detail an. ZWISCHEN GELD UND GEWISSEN Wie das Geschäft mit dem Plastik-Fußabdruck funktioniert

Die Standardisierer Kein Spiel ohne Regeln Wer Plastic Credits kauft, soll genau wissen, was er damit finanziert: Welches Material wird gesammelt? Wie wird es verwertet? Unter welchen sozialen, ethischen und ökologischen Bedingungen geschieht die Arbeit vor Ort? Mit dem Ziel, nachvollziehbare Qualitätsstandards zu diesen Fragen einzuführen, sind eine Handvoll Organisationen angetreten. Wir werfen einen Blick auf die drei wichtigsten Vertreter am Plastic Credit Markt. In der Absicht, eine dauerhafte Glaubwürdigkeit des Kompensationsmarktes für Kunststoff sicherzustellen, haben einige Organisationen eigene Qualitätsanforderungen entwickelt. Damit haben sie sich selbst beauftragt. Die so entstandenen Standards haben keine rechtliche Verbindlichkeit. Und sie spiegeln in ihrer Vielfalt nicht nur die Komplexität von Kunststoffen und die unterschiedlichen Plastikabfallvorkommen wider, sondern sorgen auch aufgrund aufwändiger Zertifizierungsprozesse oftmals für einen enormen bürokratischen Aufwand bei den Betreibern von Projekten – vom finanziellen Mehraufwand ganz zu schweigen.12 So wichtig hohe Qualitätsstandards auf ökologischer und sozialer Ebene sind, sie bergen in ihrer Rigorosität immer auch die Gefahr, Ausschlussmechanismen zu schaffen, wo sie am wenigsten angebracht sind. Projektbetreiber, die unter schwierigen Bedingungen mit lokalen Abfallsammlern zusammenarbeiten, stoßen mit gut gemeinten sozial-ökologischen Standards oft an die Grenzen der Realität. Die groSSen Drei Bisher konnten sich vor allem drei gemeinnützige Akteure als Standardisierer etablieren: Verra aus den USA, Zero Plastic Oceans (ZPO) aus Frankreich und das Netzwerk BVRio mit Sitz in Brasilien. Sie setzen sich vor allem durch verschiedene Schwerpunkte und Herangehensweisen an die Zertifizierung voneinander ab.13 Loek Verwijst, stellvertretender Geschäftsführer der unabhängigen Zertifizierungsstelle Control Union Certifications Germany GmbH, hat dennoch Hoffnung, dass Vereinheitlichungen durch Gesetzgeber – beispielsweise auf Ebene der Europäischen Union – erzwungen werden können. „Was im CO₂-Markt durch das Pariser Abkommen passiert ist, könnte auch im Plastikbereich folgen. Die Standards würden hier zwar unterschiedlich bleiben, aber müssten ein Mindestmaß an Anforderungen erfüllen“, glaubt Verwijst. Die Garantien der Standards Die Zertifizierer, die als externe Kontrollstellen über die Einhaltung der Standards im Hinblick auf faire Arbeitsbedingungen und Umweltschutz bei den Projekten wachen, stoßen immer wieder an Grenzen. Das liegt vor allem daran, sich die Projekte oft rasch entwickeln und vergrößern, sodass sich die Bedingungen oftmals schon innerhalb eines einjährigen Zertifizierungszyklus’ stark verändern können.14 „Bei einem angekündigten Audit-Besuch, können die Projekte natürlich immer eine vorbildhafte Arbeitsweise präsentieren. Was die nächsten 364 Tage im Jahr dann tatsächlich auf dem Gelände passiert, bleibt in der Verantwortung der Projekte. Wir können erst bei dem nächsten Audit nach zwölf Monaten feststellen, ob die Arbeitsweise richtig implementiert wurde“, weiß Auditor Loek Verwijst. Er weist allerdings auch auf die Risiken zu strenger Anforderungen hin: „Die informelle Abfallsammlung stellt in vielen Projektregionen die einzige Ernährungsgrundlage für viele Menschen dar. Bei der Entwicklung neuer Standards ist es nicht immer leicht, den informellen Sektor entsprechend zu berücksichtigen und ihn dabei nicht von zertifizierten Lieferketten auszuschließen.“ 12 Dieser Eindruck entstand während einer Reihe von Interviews von POLYPROBLEM mit Akteuren, die im Plastik-Offsetting aktiv sind. 13 Interviewaussage Vincent Decap, ZPO und Loek Verwijst, Control Union Certifications Germany GmbH 14 Interviewaussage Vincent Decap, ZPO 13

Kosten und Nutzen Gerade kleinere Sammel- und Recyclingprojekte können sich die Zertifizierungskosten oft nicht leisten. Vielfach handelt es sich um Start-ups oder um junge Umweltinitiativen. Für sie zählt jeder Cent. Lösungen bieten Konzepte, die mehreren kleinen Organisationen dieMöglichkeit geben, sich gemeinsam überprüfen zu lassen.15 Alternative Möglichkeiten bieten auch andere Akteure, die Nutzen aus neuen Technologien ziehen und dadurch den Arbeits- und Kostenaufwand um ein Vielfaches verringern wollen. Beispiele sind das norwegische Unternehmen Empower16 oder das deutsche Startup CleanHub, die den Projekten durch BlockchainTechnologie die Dokumentation erleichtern wollen. So soll ein einfacher und kostengünstiger Nachweis erbracht werden, dass mit dem eingesetzten Geld am anderen Ende der Welt auch tatsächlich die versprochene Menge Kunststoff aus der Umwelt entfernt wird. Verra Verras Plastic Waste Reduction Standard (PWRS) ermöglicht die Vergabe von Plastic Credits für die Sammlung (Waste Collection Credits (WCCs)) sowie für das Recycling (Waste Recycling Credits (WRCs)) von Plastik.17 Verra legt großen Wert auf die Feststellung der Zusätzlichkeit der Projekte. Ein PWRS-Credit entspricht einer Tonne gesammelten Kunststoffabfalls. Zero Plastic Oceans Der von Zero Plastic Oceans (ZPO) entwickelte Ocean Bound Plastic (OBP) Standard legt den Fokus auf Plastik, das sich bereits in unmittelbarer Nähe zu Gewässern und somit kurz vor dem unweigerlichen Eintritt in Flüsse und Meere befindet.18 Der Standard spaltet sich in zwei Teilprogramme. Die OBP-Recycling-Zertifizierung betrifft Akteure in der Recycling-Wertschöpfungskette, die kommerziell recycelbares Plastik verarbeiten. OBP Credits werden allerdings nur durch eine Zertifizierung mit dem zweiten, dem OBP Neutrality Programm, generiert. Hierbei wird ausschließlich die Sammlung von Kunststoff zertifiziert, der nicht kommerziell recycelbar ist und somit normalerweise nicht gesammelt würde.19 Neben der Services Provider Zertifizierung bietet die Organisation außerdem die Zertifizierung für (Plastik-)Produzenten und andere Käufer der Credits an, um deren Kompensationsaktivitäten offiziell zu bestätigen.20 Ein OBP Credit entspricht einem Kilogramm Plastik. BVRio Im Rahmen des Circular Credit Mechanism (CCM) entwickelte BVRio den Circular Credits Standard (CCS), der vor allem Rahmenbedingungen und Leitlinien zur Einhaltung und Unterstützung von Projekten zu den folgenden sieben Themenfeldern zur Verfügung stellt: Zusätzlichkeit, keine Doppelzählung, Nachvollziehbarkeit, kein Trittbrettfahren, faire Vergütung, keinen Schaden anrichten, Learning by Doing.21 Ein Circular Credit wird für die Sammlung und adäquate Verwertung einer Tonne Plastik vergeben. Der Standard wird unter anderem Projekten zur Verfügung gestellt, die auf der von BVRio ins Leben gerufenen Makler-Plattform Circular Action Hub ihre Circular Credits zum Verkauf anbieten.22 15 Interviewaussage Vincent Decap, ZPO 16 Empower wurde auch in Gesprächen mit Standardisierern und Projekten als interessantes Konzept genannt. 17 Verra (o.J.) 18 Zero Plastic Oceans (o.J.) (1) 19 Zero Plastic Oceans (o.J.) (2) 20 Zero Plastic Oceans (o.J.) (3) 21 BVRio (o.J.) (1) 22 BVRio (o.J.) (2) 14

Projektanbieter entscheiden sich für einen standard und füllen alle Unterlagen aus das Projekt wird von einer unabhängigen stelle auf die erfüllung der Vorgaben geprüft die potenzielle sammelmenge des Projektes wird validiert das Projekt wird zertifiziert und darf anfangen, Plastic Credits unter Verwendung des gewählten standards zu verkaufen Validierung & Verifizierung Audit & Zertifizierung die sammlung und Verwertung von Plastik im Projekt beginnt (und Plastic Credits werden generiert) die gesammelte Plastikmenge wird im nachhinein verifiziert und als Plastic Credits anerkannt das Projekt muss nach ablauf eines festgelegten Zeitraums eine rezertifizierung durchlaufen der ablauf wiederholt sich Prozess der Validierung und Verifizierung bzw. Auditierung und Zertifizierung von Projekten In Anlehnung an die Prozesse von Verra und OBP Quelle: Control Union (o.J.) 15

Eine wesentliche Bedrohung für die Zukunft des Kompensationsmarktes liegt nicht nur in den unrealistischen Erwartungen vieler großer Unternehmen an die Preismodelle, sondern auch in seiner Vielfalt in Ansätzen und Methodiken. Im Interview mit POLYPROBLEM erzählt Vincent Decap, Mitgründer von Zero Plastic Oceans, warum sich der Markt zwingend weg von einem Multiversum hin zu mehr Einheitlichkeit für die Sicherstellung seiner dauerhaften Kredibilität bewegen muss. Welches Ziel verfolgt das OBP-Programm, und welche Rolle spielt Ihre Organisation auf dem Plastik-­ Kompensationsmarkt? Die Zertifizierung dient als Garantie für Investoren, die Abfallsammelprojekte finanzieren und sich dabei auf unseren Standard verlassen wollen, um die Seriosität und ordnungsgemäße Durchführung der Projekte zu bestätigen. Um unseren Standard verwenden zu dürfen, müssen in erster Linie zwei Hauptkriterien erfüllt werden: Zum einen muss das gesammelte Material unmittelbar in der Nähe von Gewässern rumgelegen haben, um als Ocean Bound zu gelten. Und zum anderen muss sichergestellt werden, dass nur Material für die Erstellung der Plastic Credits berücksichtigt wird, das bisher nicht kommerziell recycelt werden kann. Unser Ziel ist es also, einen neuen Markt zu schaffen, indem wir Kunststoff-Materialien einen Wert geben, die bisher keinen hatten. Dieses Vorgehen verringert nicht nur die negativen Auswirkungen auf die Umwelt, sondern trägt auch zu höheren Löhnen für die Abfallsammler bei und leistet somit einen zusätzlichen sozialen Beitrag. Warum boomt der Markt für die Kompensation von Kunststoffen derzeit? Ich weiß nicht, ob der Markt tatsächlich schon boomt, aber wir beobachten ein zunehmendes Interesse sowohl bei Privatpersonen als auch bei Unternehmen, welche die Idee der Plastic Credits verstehen und in das Konzept investieren wollen. Das Bewusstsein für die Plastikverschmutzung in der Umwelt hat zugenommen und ist für viele Menschen zu einem sehr wichtigen Thema geworden. Allerdings ist der Markt noch sehr jung, und die von ihm umgesetzten Materialmengen sind im Verhältnis zum Ausmaß der globalen Plastikverschmutzung noch gering. Wer sind die Hauptinteressenten für den Kauf von Plastic Credits? Gibt es bestimmte Gemeinsamkeiten zwischen den Käufern? In der Regel handelt es sich bei den derzeitigen Käufern um sogenannte Purpose-Unternehmen, deren Geschäftsmodell sich bereits verstärkt an ethischen und ökologischen Grundsätzen orientiert. Einige große Unternehmen hingegen scheinen sich dem Markt mit schlichtweg unrealistischen Erwartungen in Bezug auf die Preismodelle anschließen zu wollen. Wenn sie beabsichtigen, Plastic Credits zu einem Bruchteil der Kosten zu erwerben, die für eine ethische und effektive Umsetzung der KompensationsmaßnahVincent Decap, Zero Plastic Oceans INTERVIEW 16

men erforderlich sind, werden sie zu einer der größten Bedrohungen für eine nachhaltige Entwicklung des Marktes. Andere Unternehmen wiederum scheinen die aktuelle Entwicklung des Marktes vorerst nur von außen zu beobachten, ohne sich bisher selbst daran beteiligen zu wollen. Was die Kosten betrifft, so ist es natürlich immer möglich, diese zu senken, aber dies sollte nicht zulasten der ökologischen oder sozialen Wirkung geschehen. Daher müssen die Standardisierer die Integrität ihrer Programme sicherstellen. Kann man die Konzepte von Kunststoff-Kompensationen mit denen von CO₂-Kompensationen vergleichen? Nein, die Ansätze sind völlig unterschiedlich, aber die Menschen neigen dazu, ihr Verständnis des einen auf das andere zu übertragen. Eine Tonne aus der Umwelt entfernten Kunststoffs ist deutlich einfacher zu messen als eine Tonne CO₂. Andererseits sind die meisten CO₂- Credits ähnlich definiert, während jeder Plastic Credit individuell zusammengesetzt ist. Das liegt daran, dass die Standards für Plastic Credits eine Vielzahl von Kriterien berücksichtigen, von der Zusammensetzung des Materials bis hin zum Umfang der zu zertifizierenden Aktivitäten. Daher ist es von wesentlicher Bedeutung, die Visionen und Zielsetzungen der einzelnen Programme zu verstehen. Führt dies nicht zu Problemen oder Unklarheiten? Manchmal kann das der Fall sein, was vielleicht einer der Faktoren ist, die eine schnellere Verbreitung von Plastic Credits als Handelsware verhindern. Gleichzeitig kann dies aber auch als Chance begriffen werden: Die Konzepte sind so unterschiedlich, dass es schwierig sein dürfte, sie anzugleichen oder zu vereinen, aber sie alle verfolgen berechtigte und sinnvolle Zielsetzungen. Dennoch muss ein Konsens darüber erzielt werden, wie ein Plastic Credit zu verwenden ist und welche Mindestanforderungen erfüllt sein müssen. Das Zusammenspiel und die Zusammenarbeit aller Akteure und Interessengruppen ist entscheidend. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die Rolle von unternehmensübergreifenden Zusammenschlüssen wie der Alliance to End Plastic Waste hervorzuheben, deren Arbeit ich sehr schätze. Initiativen wie diese können wesentlich zur Festlegung und Verbreitung geeigneter Methodiken und Leitlinien beitragen, um zu definieren, was ein Plastic Credit ist, wie ökologische und soziale Effekte gemessen werden und wie Ansprüche geltend gemacht werden sollten. Welche Entwicklungen erhoffen Sie sich zukünftig für den Markt, und worauf arbeiten Sie als Organisation hin? Für uns sind Plastic-Credit-Programme nach wie vor eine Übergangslösung zur Bewältigung der immensen Plastikverschmutzung, der wir gegenwärtig weltweit gegenüberstehen. Sie finanzieren die Etablierung und die Verbesserung von Abfallmanagementsystemen und bieten kurzfristige Lösungsansätze, was im Moment enorm wichtig ist. Wir bei Zero Plastic Oceans wären allerdings sehr glücklich, wenn wir uns eines Tages nicht mehr um dieses Problem kümmern müssten. Wir hoffen, dass das OBP-Programm mit der Zeit nicht mehr nötig sein wird. Warum es ohne Mindestanforderungen nicht geht 17

Leitfaden für eine neue Zusammenarbeit Mit dem Ziel, einen Beitrag zur Harmonisierung der unterschiedlichen Prozesse und Standards bei der Anwendung von Plastic Credits zu leisten, hat sich im Frühjahr 2021 das Projekt ValuCred formiert. Hinter ValuCred steht ein Konsortium unter der Leitung von Yunus Environment Hub, Rodiek & Co. und BlackForest Solutions für die Entwicklung und Finanzierung von nachhaltigen Kunststoffabfall-Managementsystemen. ValuCred war eines der ersten Projekte, die von der PREVENT Waste Alliance mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und der Röchling Stiftung gefördert wurden. Ergebnis der Zusammenarbeit ist ein internationales Standard-Prozess-Modell (SPM), das die voneinander abhängigen Akteure auf dem Markt für Plastic Credits miteinander verbindet. Im Projektverlauf hat das ValuCred-Konsortium 19 von 28 identifizierten relevanten internationalen Standards sowie neun damit verbundene Zertifizierungsdienstleister und 38 Plastic-Credit-Systeme beziehungsweise -Plattformen untersucht. Das SPM, das ValuCred anschließend entwickelt und in mehreren Ländern des Globalen Südens gemeinsam mit lokalen Partnerorganisationen in der praktischen Anwendung getestet hat, soll dazu beitragen, die derzeitige Lücke fehlender Systeme der Erweiterten Produzentenverantwortung (EPR) in vielen nationalen Kontexten zu schließen. Es liefert eine klare Terminologie und ein gemeinsames Verständnis, um die Interaktion zwischen den verschiedenen Akteuren entlang der Wertschöpfungskette für Kunststoffabfälle zu unterstützen. Das SPM konzentriert sich auf den Aufbau vertrauenswürdiger und transparenter Systeme rund um die Generierung von Plastic Credits. Unter besonderem Augenmerk auf die Interessen und das Wohlergehen von (informellen) Dienstleistern, die an der Abfallsammlung und Verwertung am unteren Ende der Wertschöpfungskette beteiligt sind, berücksichtigen die Empfehlungen von ValuCred gleichzeitig die Perspektive von internationalen Unternehmen und Organisationen, indem sie vollständig in bestehende Managementsysteme wie ISO 9001 oder 14001 integriert werden können. Das ValuCred-Konsortium hat ein Handbuch entwickelt, das zunächst Definitionen für eine Reihe von Begriffen, die für Plastic Credits relevant sind, enthält. Zweitens wird nach einem kurzen Überblick über die Dynamik des heutigen Plastic-Credit-Marktes das zentrale Rahmenwerk dargestellt. Dazu gehören die Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) und ihre spezifischen Unterziele sowie die einschlägigen ISO- und GRI-Normen. Drittens bietet das Handbuch als technisches Element einen detaillierten Überblick über die Prozessschritte des Standard-Prozess-Modells und gibt einen detaillierten Leitfaden, wie das SPM von Dienstleistern, die an der Abfallsammlung beteiligt sind, verwendet werden kann. Das ValuCred-Konsortium weist darauf hin, dass die ebenso wichtige Validierung entlang der gesamten Wertschöpfungskette des Abfalls unter Einbeziehung der Unternehmen ein entscheidender nächster Schritt zur Weiterentwicklung des SPMs als anwendbare Lösung im Plastic-Credit-Markt ist. Das Projekt ValuCred und sein Standard-Prozess-Modell 18

Abfallsammlerin bei der Abgabe ihrer Materialien in der vietnamesischen Provinz Tiền Giang mit ihrem ValuCred QR-Code. Zum Weiterlesen: ValuCred Report: Retrospective of recent market dynamics Plastic Credits – Friend or Foe? ValuCred-SPM_Handbook.pdf (prevent-waste.net) Die ValuCred-Reportingstruktur ist in einem beispielhaften ESG-Report eines Dienstleisters dargestellt. Das ValuCred-SPM wird in Flussdiagrammen visualisiert, um die logische und zeitliche Abfolge der Prozessschritte darzustellen: – Gesamtablaufdiagramm (sowohl für Marken als auch für Dienstleister) – Ablaufdiagramm für Marken – Ablaufdiagramm für Dienstleister 19

Auf dem Weg zum Dualen System des Südens In den Projekten zur Beseitigung und Vermeidung von Umweltschäden durch Plastikmüll spiegelt sich die wahrnehmbare Wirkung der Plastic Credits wider: Kunststoffabfall wird, sofern die angebotene Lösung funktioniert, aus der Umwelt entnommen. Und zur Finanzierung dieser sehr vielfältigen Aktivitäten hoffen immer mehr Initiativen auf denWunsch von Unternehmen und Privatpersonen, einen Beitrag über Kompensation zu leisten. Sprich: Sie setzen auf Plastic Credits. Zugleich besteht auch unter den Projektbetreibern weitgehende Einigkeit darin, dass Plastic Credits auf lange Sicht keinen umfassenden Finanzierungsmechanismus für ein belastbares Abfallwirtschafts- und Recyclingsystem darstellen. Plastik-Kompensation über Credits gilt auch unter den meisten ihrer Anbieter als eine Form der Überbrückungsfinanzierung und nicht zuletzt als ein Instrument, um weiter gegen das globale ökologische Problem der Plastikvermüllung zu mobilisieren. Der Großteil der Projektanbieter ist in Ländern in (Südost-)Asien sowie in den Küstenregionen Afrikas angesiedelt, wo beträchtliche Mengen Plastikmüll in die Ozeane23 gelangen. Retter in der Pandemie Wie in fast allen Bereichen der Wirtschaft brachten die Folgen der COVID-19 Pandemie auch für die Projektanbieter extreme Herausforderungen – aber auch neue Chancen – mit sich. Dr. Tilman Floehr, Technikchef und Mitgründer der deutschen Organisation everwave, berichtet von Einschränkungen bei der Expansion in neue Projektgebiete über Europa hinaus. Für andere Organisationen, die bereits etablierte Abfallsammelstellen in Entwicklungs- und Schwellenländern betreiben, lag das Hauptproblem in erster Linie bei den strengen Lockdowns in weiten Teilen der Welt, die die Arbeit des informellen Sektors stark erschwerten. „Die Situation war extrem schwierig für viele Abfallunternehmen, da wir hauptsächlich auf die Arbeit unabhängiger Müllsammler aus dem informellen Sektor angewiesen sind“, schildert Prince Agbata, Geschäftsführer eines Sammel- und Recyclingunternehmens in Ghana. „Der Großteil von ihnen besitzt keine staatlichen Ausweisdokumente, was es oft unmöglich machte, nachzuweisen, dass sie der systemrelevanten Infrastruktur angehörten.“ Die Folge seien vielerorts große Mengen Plastikmülls gewesen, der nicht gesammelt und verwertet werden konnte. Neben den organisatorischen Schwierigkeiten wurde die Situation auch durch ökonomische Faktoren wie starke Einbrüche der Preise für gesammeltes Material verschärft. In dieser Situation zeigten sich die Vorzüge der Plastic Credits. Der Einstieg in das Geschäft mit der PlastikKompensation hat viele Projekte während der schwierigen wirtschaftlichen Situation, speziell in der Anfangsphase der Pandemie, finanziell über Wasser gehalten. Trotz sinkender Einnahmen war es den Projekten durch die zusätzlichen Gelder durch Plastic Credits auch möglich, die Zahlungen an Abfallsammler auf gleichem Niveau weiterzuführen und teilweise sogar Vorauszahlungen zu leisten.24 Darüber hinaus konnten Abfallsammlerfamilien durch Hilfsprogramme mit Lebensmitteln und Hygieneprodukten während der ökonomisch ungewissen Zeit unterstützt werden. Generell sehen Projektbetreiber die Zuverlässigkeit und die langfristigen Planungsmöglichkeiten durch Plastic 23 Statista (2018) 24 Interviewaussage Prince Agbata, Geschäftsführer eines Sammel- und Recyclingunternehmens in Ghana Die Projektanbieter 20

Credits als bedeutende Vorteile. Sie helfen dabei, transparenter zu agieren, den Erwartungen ihrer Kooperationspartner gerecht zu werden und damit Vertrauen aufzubauen.25 Bürokratie-Kulturschock Auch wenn das Geschäftsmodell der Plastic Credits den oftmals chronisch unterfinanzierten Sammel- und Recyclingorganisationen neue Finanzierungsmöglichkeiten bietet – und damit einhergehend mehr unternehmerische Sicherheit sowie Möglichkeiten für neue Investitionen26 –, bringt das Konzept auch eine Hürde mit sich, die kleine wie große Projekte vor eine große Herausforderung stellt: die hohen Ansprüche an Dokumentation und Transparenz. In den Gesprächen mit den Projektanbietern wird deutlich, dass hier zwei Welten aufeinandertreffen. Standardisierer, Makler-Plattformen und große Unternehmen fordern detaillierte Aufzeichnungen der Verwertungskette des Plastiks vom Sammelort bis hin zur Herstellung und dem Verkauf des Rezyklats. Mehrere Gesprächspartner machen deutlich, dass eine große Herausforderung vor allem darin besteht, die Brücke zwischen der formellen Art der Dokumentationsanforderungen und der informellen Art der Projektaktivitäten zu schlagen. Viele der Abfallsammler besitzen beispielsweise keine Smartphones, um den Weg des Plastiks per QR-Codes zu dokumentieren. Gerade in Ländern, in denen die Gesetzgebung und Vorschriften bisher nicht die Standards nach westlichen Erwartungshaltungen erfüllen, stellt das Organisationen vor Hindernisse und hält Unternehmen von der Arbeit mit Plastic Credits als Finanzierungsinstrument ab. „Ich glaube nicht, dass es viele weitere potenzielle Projekte in unserem Umfeld gibt, die Zeit und Geduld haben, sich den Kontrollprozessen zu unterziehen – oder die es sich überhaupt leisten können“, bemerkt Agbata. Das Problem ist auch anderen Akteuren nicht unbekannt. Loek Verwijst von Control Union ist sich bewusst: „Jemand, der in Westeuropa den Standard schreibt, hat nicht unbedingt eine Vorstellung davon, wie die Betriebsprozesse beispielsweise in Indonesien ablaufen.“ In mehreren Gesprächen wurde auch deutlich, dass der hohe zusätzliche Zeitaufwand Projektleiter regelmäßig überlegen lässt, ob die Vereinbarungen mit Maklern weiterhin aufrechterhalten werden sollten oder ob ein Ausstieg aus dem Plastic-Credit-Markt nicht die finanziell sinnvollere Entscheidung darstellen würde.27 Andererseits sind die Vorgaben, die für den Verkauf von Plastic Credits erfüllt sein müssen, auch für die Projekte selbst von Vorteil. Sie helfen, neue Systeme und Strukturen aufzubauen, wo es vorher keine gab. „Wir haben jetzt offizielle Vorschriften zu Themen wie Kinderarbeit oder sexueller Belästigung am Arbeitsplatz. Das gibt Kunden eine Sicherheit, aber hilft vor allem auch uns selbst, unseren Umgang mit diesen Problemen zu formalisieren und zu vereinheitlichen“, sagt Prince Agbata. Nicht alle Projekte können durch externe Standards zertifiziert werden. Projekte mit begrenzten Laufzeiten von nur wenigen Wochen lassen beispielsweise kaum eine Zertifizierung zu. Die deutsche Organisation everwave, vormals bekannt als Pacific Garbage Screening, arbeitet zur Nutzung der Dokumentationssoftware mit dem deutschen Start-up CleanHub zusammen, das eine Handelsplattform für Plastic Credits aufgebaut hat. In deren System gibt es bisher keine externe Zertifizierung für einen bestimmten Standard, jedoch steht man auch hier im Austausch miteinander28. Stattdessen werden eigene Vorgaben erarbeitet und implementiert, die jedoch ähnliche Faktoren einschließen, wie „faire Löhne, keine Kinderarbeit oder die Motivation, Menschen vor Ort eine Arbeit zu geben, die normalerweise keine guten Chancen auf dem Arbeitsmarkt hätten“, berichtet Dr. Tilman Floehr, Technikchef bei everwave. 25 Interviewaussage Sahithi Snigdha Bhupathiraju, Waste Ventures India (WVI) 26 Ebd. 27 Interviewaussage Prince Agbata 28 Interviewaussage Joel Tasche, CleanHub 21

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